Zwei wackere Redakteur*innen der Kupferblau begeben sich nach Dußlingen ins Musical „Anastasia“ – Ein Musical-Hater und eine Liebhaberin. Ob sie ihre Haltung gegenüber Musicals geändert haben? Ein etwas anderes Review von Esma und Michael.
Esma – Es mag sein, dass ich nur von den falschen Menschen umgeben bin, aber jedes Mal, wenn ich es auch nur wage, ein Musical zu empfehlen, ernte ich strikte Ablehnung. Und das, obwohl unsere Generation mit allerlei Musikfilmen aufgewachsen ist und ich persönlich ein großer Fan von ihnen bin. Schwer liegt er also in der Luft, der Hass gegen Musicals. Dabei kombinieren sie doch zwei Dinge, die die meisten von uns mögen: Musik und eine —hoffentlich gute— Geschichte. Genau deshalb finde ich sie so klasse. Das Prinzip ist ja durchaus das gleiche wie in normalen Theaterstücken und Filmen – das Publikum wird mit einer gut erzählten Story unterhalten, nur eben die Erzählart ist eine andere.
Als ich also mitbekam, dass im Mai direkt in der Nähe unseres kleinen Tübingens ein Musical von der Musical Academy Tübingen aufgeführt wird, war klar: Das muss ich sehen. Und dann auch noch Anastasia, ein Film aus der Kindheit, den ich, wie so viele andere, kenne und liebe.
Nur ein kleiner Sprung: von der Russischen Revolution zum Musical
Anders als mein lieber Kollege Michael (einer der besagten Musical-Hater) bin ich nicht völlig planlos in die Vorstellung gegangen. Den Film Anastasia, den uns 20th Century Fox 1997 in die Kinos brachte, hatte ich über die Jahre meiner Kindheit und Jugend mehrmals gesehen und war mit seinem Inhalt immer noch allzu gut vertraut. Zurück geht Anastasia allerdings auf ein gleichnamiges Stück aus den 1950ern von der Dramatikerin Marcelle Maurette, welches dann 1952 von Guy Bolton adaptiert wurde.

Die Handlung vermischt historische Ereignisse mit Fiktion. Im Zuge der Russischen Revolution wird die Zarenfamilie ermordet. Es stellt sich jedoch heraus, dass eine Tochter womöglich überlebt hat. Die Großmutter, Zarin verspricht eine Entlohnung für denjenigen, der Ihre Enkelin findet und zu ihr bringt. Um das Geld für die Belohnung zu kassieren, wollen Dimitri und sein Gefährte Vlad, die Waisin Anya ausbilden, um sie als verschollene Zarentochter auszugeben. Anya aber verfolgt ihre eigenen Ziele: Sie will herausfinden, wer sie wirklich ist, denn an ihre Kindheit kann sie sich seltsamerweise nicht erinnern.
Kleine Rollen, große Beeindruckung
Es war mein erstes Musical, das ich live erleben durfte. Meine Erwartungen waren den Umständen entsprechend nicht allzu hoch geschraubt, ich habe also keine „Broadway Produktion“ erwartet. Der Anfang war jedoch überraschend ernüchternd. Das Schauspiel war nicht gerade überwältigend. Es wurde zwar mit der Zeit besser, erreichte jedoch zu keinem Zeitpunkt ein professionelles Level. Allerdings kann man auf einer live Bühne kein Schauspiel wie in Hollywood Filmen erwarten. Die Leidenschaft der Einzelnen war jedoch klar zu sehen. Vor allem positiv überraschend war die 9-jährige Lina, welche die junge Anastasia und Alexej spielte. Mit so jungen Jahren bereits viele der erwachsenen Schauspieler*innen zu überstrahlen, empfand ich als äußert beeindruckend.

Gesangstechnisch sah es deutlich besser aus als beim Schauspiel. Sowohl die Hauptrolle der Anastasia, gespielt von Michelle Trifonov, als auch unzählige andere konnten mit ihrem Talent stark überzeugen. Besonders eingeprägt hat sich jedoch kein Hauptdarsteller, sondern die Gräfin Ipolitov, die mit dem Lied „Mein Land“ und ihrer beeindruckenden Stimme einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Die Lieder zu hören, die man aus seiner Kindheit kennt, war Live nochmals beeindruckender. Alles in allem war ich zufrieden. Das Live-Orchester, welches den Gesang in jedem Lied begleitet hat, war ebenfalls ein großer Pluspunkt.
Zeig mir deine Kleider und ich sag dir, wer du bist
Am meisten überrascht war ich von den prachtvollen Kostümen. Von einer eher kleineren Produktion wie dieser hätte man dies nicht erwartet, allerdings wurde ich positiv überrascht. Von gewöhnlicher Alltagskleidung der Kleinbürger, Militärkleidung, Partykleider der 20er bis hin zu den Prachtvollen Gewändern der Zarenfamilie war jeder Kostümwechsel aufs Neue gern gesehen.
Für Musical-Fans lohnt es sich also auf jeden Fall, sich in eine Produktion der Musical Academy Tübingen reinzusetzen. Ich habe das Musical genossen und bin zufrieden wieder hinausgegangen. Natürlich muss man wissen, auf was man sich einlässt, aber das Gleiche gilt für Filme. Das wohl größte Manko war die Tatsache, dass meine Sicht auf die Hälfte der Bühne versperrt wurde. Doch für meine Größe (und mein Pech, immer Riesen vor mir zu haben) kann nun wirklich niemand etwas, außer meine Eltern vielleicht.
Vom Musical-Hater zum Lover?
Michael – Musicals? Nein danke. Mamma Mia, The Greatest Showman und Joker 2 (besonders schlecht, siehe mein Review) sind alles Filme, die lediglich meinen Fluchtinstinkt wecken. Für mich hat sich nie erklären wollen, wieso Menschen auf einmal anfangen zu singen, wenn sie doch gerade noch gesprochen haben. Allerdings hatte ich vergessen, dass ja Zeichentrickfilme wie König der Löwen ebenfalls als Musical zählen und ich diese Filme sogar sehr mag. Und da ich natürlich kein Kulturbanause sein möchte, wollte ich der Materie noch einmal eine Chance geben (und weil Esma mich gezwungen hat). So kam es also, dass ein Musical-Hater sich in ein solches gesetzt hat.
Von Prinzessinnen und Zaren
Auch wenn die Story des Musicals auf dem Papier recht düster wirkt, war sie doch reiner Kitsch: Die Zarenfamilie der Protagonistin wird zu Beginn brutal ermordet. Dadurch ist Anastasia so schwer traumatisiert, dass sie ihre gesamte Vergangenheit vergisst und versucht durch einen (scheinbaren) Betrug an Reichtum zu gelangen. Doch durch den Gesang und den Humor des Musicals wollte sich bei mir keine innere Düsternis bilden. Dadurch wirkte auf mich dann das Ende auch weniger wie ein Geschenk Fortunas, sondern eher wie eine romantisch-kitschige Kindergeschichte.

Dennoch hat mich wie Esma das historische Setting sehr gecatcht. Dazu haben sicherlich auch die großartigen Kostüme beigetragen, und ich hatte teilweise richtig das Gefühl, im Russland der russischen Revolution zu stecken. Gerade die armen und ausgehungerten Proletarier sind mir in Erinnerung geblieben. Aber auch die eindrucksvollen Ballkleider, die Uniformen und die Kulissen waren detailreich und passend.
Schöne Lieder, die zu lang sind
Vor allem die Live-Musik hat mir sehr gefallen. Sicherlich auch, weil die Musik einen traditionell russischen Einschlag zu haben schien (ich bin leider kein Experte, was das angeht) und dadurch eine gewisse Würze bekam. Selbst das Kernstück eines Musicals, der Gesang, war auf technischer Ebene richtig gut. Durch die Bank weg waren alle Sänger*innen richtig gut und talentiert. Manche Songs haben mir so gut gefallen, dass ich gehofft habe, sie würden noch einmal kommen.
Allerdings gilt das leider nur für etwa ein Viertel aller Lieder. Denn insgesamt waren mir persönlich die Gesangseinlagen nämlich zu lange. Besonders, weil der Raum sehr schnell sehr stickig wurde. Da war auch die eine Pause zu wenig, um sich etwas zu erholen.
Schauspiel lässt Luft nach oben
Im Gegensatz zum Gesang und zur Musik, hat man leider beim Schauspiel doch gemerkt, dass wir in einem Amateur-Musical sind. Zu oft konnte ich den Figuren ihren Schmerz, ihre Freude und ihre Liebe nicht abnehmen. Dadurch wurde ich immer wieder regelrecht aus der Immersion herausgerissen. Und vielleicht wirkte auch dadurch die Geschichte mehr kitschig als düster.

Mein Fazit: Ich war positiv überrascht. Musicals im richtigen Setting, mit passender Musik, Gesang und Kostüm können richtig Spaß machen und einen packen. Doch gehört für mich als Filmenthusiast auch eine große Portion authentischen Schauspiels dazu. Dennoch hat es mir schon große Freude bereitet, einfach nur zu sehen, wie viel Herzblut, Schweiß und sicherlich auch Tränen in dieses 2-stündige Spektakulum geflossen sind.
Michis und Esmas Konsens
Zwei konträre Perspektiven auf das Musical Anastasia – eine Liebhaberin des Genres und ein Skeptiker. Beide waren am Ende positiv überrascht: Trotz Schwächen im Schauspiel überzeugte die Produktion mit eindrucksvollem Gesang, einer leidenschaftlichen Inszenierung, großartigen Kostümen und stimmungsvoller Live-Musik. Die emotionale Geschichte, eingebettet in ein historisch interessantes Setting, konnte sogar den „Musical-Hater“ Michael teils beeindrucken. Vielleicht ist das der erste Schritt, um Michael doch noch zum Musical-Fan zu konvertieren. Das Fazit: Kein Broadway, aber viel Herzblut – der Besuch eines Stücks der Musical Academy Tübingen lohnt sich für alle Theaterbegeisterten.
Beitragsbild: Virginia Dingler
Der Beitrag Zu viel Gesang? Es ist ein Musical! erschien zuerst auf Das Tübinger Campusmagazin.