In der 20. Tübinger Mediendozentur sprach der Astrophysiker und Philosoph Harald Lesch über die Schattenseiten des digitalen Zeitalters und wem diese in die Hände spielen. Einblicke in ein komplexes Verhältnis zur Informiertheit und ein kurzes Interview mit der Kupferblau.
Wie gut sind wir wirklich informiert? Sind wir vielleicht sogar etwas zu gut informiert? Und was macht das mit einer kapitalistischen Gesellschaft, wenn ein Überangebot an Informationen zu jeder Tages- und Nachtzeit in Sekunden abrufbar ist und wer profitiert womöglich sogar davon? Diese Fragen scheinen auch Harald Lesch zu beschäftigen, der die 20. Mediendozentur an der Universität Tübingen antrat.
Zu Beginn seines Vortrags betont Lesch die Wichtigkeit, sich bei Informierungs- und Bildungsprozessen „voranzuirren“, denn so funktioniere empirische Wissenschaft. Das benötige allerdings Zeit, daher sei uns als Gesellschaft die Fähigkeit verlorengegangen sei, sich Irrtümer einzugestehen und gar zu zelebrieren. Doch die Anklage des Astrophysikers und Philosophen geht weit darüber hinaus: So meint Lesch, dass obwohl die Gesellschaft ihren Wohlstand nur durch Wissenschaft und Forschung erhalten habe, sie sich so verhalte, als wüsste sie gar nicht, dass es eine Wissenschaft gibt.
Diese Tatsache führt Lesch darauf zurück, dass es Akteure gebe, die gesellschaftlichen Informationsprozessen im Wege stünden – Akteure, die er die „Feinde der informierten Gesellschaft“ nennt. Akteure demokratischer Gesellschaften, so Lesch, sollten sich die besten Kenntnisse über ein Thema kurzfristig beschaffen können.

Ziel der Feinde der informierten Gesellschaft (IG) sei es daher, Zeit zu rauben, indem sich die Menschen bei Informierungsprozessen mit Falschbehauptungen auseinandersetzen müssen. Ermöglicht werde dies mitunter dadurch, dass eine immense Menge an Informationen für uns jederzeit abrufbar sei. So könne man nicht nur von einem Überangebot sprechen, sondern auch von einem Sofortismus.
Wer sind diese Feinde?
Dazu trage auch KI in relevantem Ausmaß teil, weil wir die Denkleistung, so Lesch, an Algorithmen outsourcen und uns darauf zu schnell verlassen würden, auch wenn es natürlich bequem sei und auch einige Vorzüge mit sich bringe. Dies führe allerdings auch dazu, dass wir es bei den Feinden der IG nicht mehr nur mit Personen zu tun hätten, sondern mit Institutionen, die auf irgendwelchen Servern irgendwo auf der Welt irgendwelche KI-Programme betreiben. So hätten wir nicht nur gegen Desinformation durch Menschen, sondern auch durch Algorithmen anzukämpfen.
Auf komplexe Fragen gibt es keine einfachen Antworten.
Harald Lesch
Als Feinde der IG macht Lesch drei Akteure aus. Der erste sei der Markt, welcher eine Ökonomisierung von Information geschaffen habe. Informationsbeschaffung koste oftmals Geld und Profitorientierung sorge für Konkurrenzkampf im Bildungswesen. Zu oft setze ökonomisches Denken ein und stehe der Geldaspekt, oft zwangsweise, im Vordergrund. Darüber hinaus bemängelt er, dass private Quellen aus Misstrauen gegenüber dem Öffentlich-rechtlichen Rundfunk häufig bevorzugt würden, obwohl diese eigentlich weniger vertrauenswürdig sein müssten, so Lesch.

Als zweiten Feind macht der Professor die fehlende Zeit aus, was auf die Vergeltlichung von Zeit zurückzuführen sei. Zusammen mit der Ökonomisierung von Information, dem ersten Feind, resultiere daraus das bereits erwähnte Überangebot an Informationen. Um damit Geld zu verdienen, müssten Nachrichten kurz und knackig sein, etwa in Form von reißerischen Headlines und einem Newsflash nach dem nächsten. Problematisch sei das, weil durch diese Verkürzung Kontext fehle, Zusammenhänge seien in der Bildungsforschung jedoch enorm wichtig.
Von der Be- zur Entschleuigung
Hinzu komme, dass die Informierungszeit früher größer als die Ereigniszeit war, heute aber quasi identisch sei. Diese Beschleunigung von Nachrichten stärke auch Fake News und Fehlermeldungen. Daher koste es Zeit, sich wirklich zu informieren, was jedoch im Widerspruch zur Vergeltlichung von Zeit stehe. Darüber hinaus führe der Drang zur sofortigen Meinungsbildung zu einem stetig schrumpfenden Vertrauen in die eigene Informationskompetenz, wodurch Nachrichten immer stärker komprimiert würden, um Komplexität zu vermeiden. Doch auf komplexe Fragen gebe es nunmal keine einfachen Antworten.
Leschs Lösung: Mehr in den eigenen Verstand vertrauen, sich also auch mal komplexere Themen oder Berichterstattungen zutrauen. Vertrauen reduziere (wahrgenommene) Komplexität, Misstrauen hingegen führe zur Selbstradikalisierung in Echokammern. Auch plädiert der Physiker für mehr Entschleunigung und das Etablieren einer Fehlerkultur.
Was wir also tun können, um den Feinden der IG etwas entgegenzustellen, ist laut Lesch: „Like erst morgen!“ Erstmal drüber schlafen und nicht gleich auf eine Meldung reagieren. Gerüchte, Spekulation und Vermutung seien das Resultat sofortiger Reaktionen und würden zu Instabilität in der Gesellschaft führen. Außerdem gelte es, Fast-Food-Medien zu vermeiden und stattdessen Informationsmahlzeiten für sich zu definieren und Informationen dadurch portioniert zu konsumieren, „sonst droht Info-Adipositas“, so Lesch.

Ebenfalls warnt der Forscher davor, das eigene Denken und Sprechen zu sehr an Algorithmen auszulagern, schließlich wüssten nicht einmal deren Schöpfer, wie KI funktioniert. Denn – so zitiert er den Begründer der Informatik, Alan Turing – „Maschinen können nur Maschinen verstehen.“ Auch einfache Dinge würden mehr und mehr von Computern und KI übernommen.
Mehr das Analoge suchen
Dicht darauf apelliert er an das Publikum, in den „analogen Widerstand“ zu gehen und sich in Genossen- und anderen Gemeinschaften zusammenzutun. Komplexität sei empfindlich gegen Informiertheit und daher nur zusammen zu lösen. Das sei „die Waffe gegen die, die unser Zusammen zerstören wollen.“ Die Versuche, uns mit Falschmeldungen zu täuschen, seien schließlich längst keine Versuche mehr, das Bundesministerium für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) verzeichne immerhin über 400.000 digitale Angriffe jeden Tag.

Die digitale Infoflut verstopfe jede noch so kleine Zeitnische, dabei sei das allermeiste davon irrelevant. Die Feinde der IG könnten „Blödsinn verteilen“ in dem Wissen, dass der Großteil davon hängen bleibe. Daher gelte es, mehr das Gespräch im Analogen zu suchen und weniger digital zu existieren. Gespräche, so Lesch, seien die „größte Missverständnisvernichtungsmaschine“, die man kenne. Der Physiker verweist schlussendlich auf den Fakt, dass Zeit eine nicht reversible Dimension ist und appelliert: „Nehmen Sie Ihre Lebenszeit in die Hand. Bleiben Sie Mensch!“
Drei Fragen an Harald Lesch
Nach dem Vortrag und der darauffolgenden Fragerunde hatte die Kupferblau die Möglichkeit, Harald Lesch noch persönlich drei kurze Fragen zu stellen:
Kupferblau: Eine Gesellschaft zu informieren, hat auch mit Wissenschaftskommunikation zu tun. Was macht denn einen guten Wissenschaftskommunikator aus?
Harald Lesch: Sich erst einmal an einfachen Fragen zu versuchen und nicht gleich an ganz großen Dingen. Es gibt wahnsinnig viele Studierende in der Naturwissenschaft, die wollen gleich die Quantenfeldtheorie erklären, aber es ist sinnvoll, erstmal kleine Brötchen zu backen. Wichtig ist vor allem, den Spaß dabei nicht zu verlieren und sich gar nicht so große Ziele zu setzen. Einfach mal machen und dann wird man lernen, wie es geht, oder auch nicht.
Welche Rolle spielt Wissenschaftsbegeisterung bei jungen Menschen für die Entwicklung hin zu einer gegen ihre Feinde resilienteren Gesellschaft?
Wenn die Begeisterung für gewisse Themen nicht da ist, wird man auch nicht versuchen, sich gegen Fehlinformation zu wehren. Man muss die Instrumente kennen, man sollte wissen, mit welchen Waffen da gearbeitet wird und sollte zusehen, dass man wieder Alliierte findet. Diese Suche nach Alliierten ist extrem wichtig.
Wie können wir mehr junge Menschen von Wissenschaft begeistern?
Beispielsweise indem man Schulklassen in die Uni bringt, dass die merken, Wissenschaftler*innen sind auch ganz normale Menschen und nicht irgendwelche Leute, die zehn Zentimeter über dem Boden schweben.
Beitragsbild: Jörg Jäger/Universität Tübingen
Der Beitrag Wie uns Informiertheit zum Verhängnis wird: Harald Lesch bei der Mediendozentur erschien zuerst auf Das Tübinger Campusmagazin.